Die Figuren dieses Satzes, der mir Ende 2018 in desolatem Zustand, angeboten wurde, hatten zuletzt vor geraumer Zeit bessere Tage gesehen. Zum Teil voller Wachs, allesamt verdreckt mit angegriffenen, stumpfen Farben und von unzähligen Beschädigungen unterschiedlichster Art und Ausprägung übersät, erkannte ich einerseits dennoch das Potential, das in den Stücken steckte, scheute andererseits zunächst aber auch den hohen Aufwand, der betrieben werden müsste, um dieses Potential voll zutage zu fördern.
Diese Figuren sind "uralt"- man könnte auch sagen, sie haben ein "biblisches Alter" von weit mehr als 100 Jahren erreicht. Sie stammen aus der Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert, etwa aus der Zeit von 1875 bis 1900. Leicht zu erkennen ist, dass die Stücke nicht von einem, dem nach eigens den Belangen der Gipsfigurenindustrie folgend, geschaffenen Berufsbild, ausgebildeten Modelleur, sondern von einem "echten" Künstler (einem Bildhauer oder Schnitzer etwa) entworfen worden sind. Ein Modelleur war seinen Kenntnissen und Fertigkeiten nach in seiner gestalterischen Freiheit etwas eingeschränkt, da die Ausformung seiner Modelle den Produktionsprozess der Gipsfiguren nicht unnötig verzögern durfte. So sollten die Vorlagen für die Gießformen vor allem kompakt, ohne vorspringende filigrane Teile, abstehende Extremitäten und und freistehende Beine, sein. Solcherlei Figuren waren in einfach aufgebauten Formen zu gießen und bedeuteten keinen zusätzlichen Aufwand. Darüber hinaus boten kompakte Figuren weniger Angriffsfläche für Bestoßungen. Nur für großformatige Krippenfiguren blieben auch kompliziertere Formen im Gebrauch, in denen oft auch nur Einzelteile gegossen wurden, aus welchen die eigentliche Figur erst zusammengefügt werden musste.
Je mehr sich der Fokus hin zur Krippe für den Hausgebrauch verschob und damit die Kommerzialisierung der Gipsfigurenindustrie voranschritt, desto weniger Wert wurde auf eine kunstvolle Ausführung gelegt. Der künstlerische Anspruch wich dem rein wirtschaftlich orientierten Ziel, der hohen Nachfrage rationell nachkommen zu können. So wurden die Sortimente trotz eines großen Heeres von Anbietern immer beliebiger und sich ähnlicher. In den Anfängen der Branche wurde im Gegensatz dazu, sehr wohl großer Wert auf eine künstlerisch anspruchsvolle Ausführung der Fabrikware gelegt, vor allem auch, um sich qualitativ von den Mitbewerbern abzusetzen.
Die Bildhauer und Schnitzer hingegen gestalteten die Modelle allein nach ihren Vorstellungen- soweit ihre Phantasie eben reichte. Auch die Modelle zu diesen hier gezeigten Figuren wurden unter rein künstlerischen Gesichtspunkten geschaffen. Als Thema liegt der in jener Zeit unausweichliche Orientalismus zugrunde, der hier konsequent in allen Figurenabteilungen - hl. Familie, Hirten, Königszug - umgesetzt worden ist. Entstanden sind attraktive, teilweise recht ungewöhnliche Modelle, die ihresgleichen suchen.
Allein die hl. Familie folgt einem gestalterischen Ideal, dessen Ursprung im Nazarenerstil zu suchen ist und das die Katholische Kirche zu dieser Zeit ihren Gläubigen in der Volkskunst unaufhörlich "einbläute", weil es sich um eine zwar naive, aber eben einfach zu verinnerlichende Darstellung handelte. Dennoch finden wir auch hier Anklänge des Orientalismus, da die hl. Familie unbestritten aus dem vorderen Orient stammte. Die blutjunge Maria kniet im blauen Mantel mit offenem Haar und vor die Brust geschlagenen Händen bei ihrem Kind und schaut es mit verklärtem Blick an. Das Kind liegt in seinem Strohbettchen und blickt seine Betrachter recht keck daraus an. Der Josef scheint nicht wirklich in das Geschehen integriert. Er steht in sich gekehrt und ohne Attribute wie Stab oder Laterne etwas verloren, abseits der Szene mit Mutter und Kind. Anders als die Hirten und Könige sind die Figuren der hl. Familie zwar attraktiv aber ohne große Raffinessen ausmodelliert worden.
Der Gloriaengel schwebt Kopf voran, quasi im Sturzflug, auf silbernen Wolken über dem Stall. Die Figur legt eine ungewöhnliche Dynamik an den Tag und trägt das obligatorische Gloria- Banner mit sich, das er entschlossen mit beiden Fäusten gepackt hält.
Der Ochse ist im Verhältnis zu den menschlichen Figuren im richtigen Maßstab ausgeformt und liegt als solcher "Brocken" mit freundlich- gütigem Blick am Strohlager des Kindes.
Der Esel ist proportional ebenfalls korrekt gestaltet. Er steht in arttypischer Ruhehaltung mit angehobenem Hinterlauf, gesenktem Kopf und hängenden Ohren über seiner Heuration, die lilafarbene Satteldecke halb am Boden schleifend. Da der Esel auf 4 freien Beinen steht, ist seine Herstellung nur mittels einer speziell gestalteten Form möglich gewesen.
Der junge Hirte hockt, spärlich in einen Fellschurz gekleidet, im Schneidersitz an einen Felsen gelehnt am Lagerfeuer. Er umklammert eine Sackpfeife, welche sein einziges Hab und Gut darzustellen scheint.
Der reife Hirt im Fellrock mit Umhängetuch und traditionellem Keffiyeh auf dem Kopf, führt gebeugt ein bockiges Schaf mit sich. Eine Gruppe wie diese, wo die Hauptfigur freie Arme und Beine hat und die Nebenfigur ebenfalls freistehend gestaltet ist, machte eine kompliziert aufgebaute Form für den Guss nötig.
Der alte Hirt im knielangen Fellkleid mit übergeworfener, buntgemusterter Decke, steht gedankenverloren, die Hände über seinem Bäuchlein gefaltet, am Lagerfeuer oder an der Wiege des Kindes. Zu seiner Seite sitzt der alte, braune Hirtenhund, welcher treu ergeben zu ihm aufblickt. Im Bezug auf die Gießform, gilt für diese Gruppe das bei der vorausgegangenen Figur Gesagte.
Die Schafherde zählt 6 Köpfe: ein laufendes, ein blökendes sowie weidendes Schaf, derer zwei in liegender Haltung - links wie rechts schauend - und einen Widder. Die stehenden Modelle hat man als Verfüllung zwischen den Beinen nicht mit "Gras", sondern "Stroh" ausstaffiert. Diese 6 ursprünglich hinzu sortierten Modelle sind zu klein, weshalb sie zukünftig den 6 hier auch gezeigten Schafen in passender Größe als Lämmer beigestellt werden werden.
Caspar mit befedertem Turban, Krone und Fez, trägt schwer an seinem kübisartigen Myrrhe- Gefäß aus glänzendem Gold, das er stolz dem Kinde präsentiert. Seine Gewandung ist mit goldenen Kordeln und Bordüren besonders detailreich sowie farbenfroh gestaltet. Er trägt goldenen Ohrschmuck und einen goldenen Ring an seiner rechten Hand. Alles in allem verköpert dieser König das damals verbreitete Klischee des (Kolonial)Mohren wie er auch in der Reklame und Illustrationen von Abenteuerromanen und Kinderbüchern gerne dargestellt wurde.
Melchior hat sich ehrfürchtig vor dem Kind zur Erde geworfen und reicht diesem seine Krone. Dieser Vorgang symbolisiert den Übergang der Macht aus weltlichen in höhere Hände. Zudem stützt sich Melchior mit der Linken auf der Goldschatulle ab, die seine Gabe an das Kind beherbergt. Der Gestus dieser imposanten Figur bedeutete ebenfalls Mehraufwand bei der Herstellung.
Balthasar der Orientale begegnet uns hier im bodenlangen Gewand mit rotem Überwurfmantel. Im Lauf hält er den rechten Arm halb erhoben. Auf dem Haupt trägt er eine für Herrscher des vorderen Orients typische Kopfbedeckung in Gold, die eher einem krempenlosen Hut ("Kannenwärmer") denn einer Krone ähnelt. Auch eine solche Figur war schon aufwändiger zu machen, weshalb man sie selten in dieser Art dargestellt findet.
Kamel & Treiber: das mit allerlei Decken und Polstern voll aufgesattelte Reittier hat sich ruhig niederlegt, während der Treiber lässig an es gelehnt seine "Dukaten" zählt- ganz so als hätten die 3 Weisen sich ein "Taxi" genommen- einfach herrlich!
Der Stall ist der korrekten Übersetzung der Bibel folgend als Grotte (welche es im vorderen Orient häufig gibt und die vor 2000 Jahren als Viehställe genutzt wurden) gestaltet, die unrealistisch aber schön anzuschauen eine Mischung aus Felshöhle, Bruchsteinbau und abgestorbenem Palmenstamm darstellt. Selbstverständlich mit Futterraufe unter dem halbrunden Fenster, von einem Strohdach gedeckt und mit floralen Elementen wie Ranken und Agaven romantisiert. Dieser Stall ist gänzlich aus Gips gegossen, wiegt ca. 8 kg und war beim Transport in 4 Teile zerbrochen. Seine Wiederherstellung war zunächst fraglich, gestaltete sich sehr aufwändig und ist letztlich doch geglückt. Solche Ställe aus Gips waren nur umständlich herzustellen- nicht zuletzt weil die aufgrund ihres Gewichtes unhandlichen Rohlinge den Polychromeuren die Arbeit erschwerten. Die Stücke mussten während der Bemalung ja nicht nur in alle Richtungen gedreht, sondern auch an den schlecht zugänglichen Stellen im Inneren gefasst werden. Die Polychromie musste ausgefeilt differenziert erfolgen, um die Illusion von Mauerwerk, Felsen, Stroh und floralen Elementen naturalistisch aufleben zu lassen- was mühsam war. Der betriebene Aufwand stand letztlich in keinem Verhältnis zur Kurzlebigkeit der Gipsställe, die sich gerade auch auf der Stellfläche im Inneren schnell abnutzten. So ersetzte man sie letztendlich ganz und gar durch Angebote aus Holz. Diese Holzställe wurden von handwerklich geschickten Rentnern und Frauen in Heimarbeit gefertigt. Die Einzelteile aus ungehobeltem, dunkel gebeiztem Holz waren vorgefertigt und wurden von den Heimarbeitern nach Vorlagen zusammengezimmert. Das verwendete Material, welches sich von dem für Gemüsesteigen nicht unterschied, zeitigte Endprodukte, die robust und federleicht waren. So mancher alte Krippenstall, der heute als "Eigenbau" oder "selbst gemacht" angeboten wird, ist in Wahrheit eines jener Standartmodelle aus dem Zubehörhandel, die in hohen Auflagen billig gefertigt und angeboten wurden.
Die letzten Fotos zeigen einige der Figuren im Fundzustand.
Einen Hinweis auf einen Hersteller tragen die Figuren leider nicht. Das war zur Zeit ihrer Entstehung auch noch nicht üblich, da erst später Gesetze erlassen werden sollten, die vorschrieben, jedes Modell patentieren lassen zu müssen, damit die Eigentumsrechte daran von vorne herein geklärt waren.